Kapitel 1: Der Tag des Todes
„Es ist Zeit, ins Hospiz zu fahren,“ sagte Schwester A. vom mobilen Hospiz zu mir, die meinen Mann und mich schon jahrelang betreut hatte. „Sonst ist er nicht mehr transportfähig.“ Wie lange habe ich mich vor diesen Worten gefürchtet und jetzt waren sie da. Unwiederbringlich. Er war gekommen, der letzte Gang. Ich musste es ihm sagen – wir hatten es ja so ausgemacht, dass er im Hospiz sterben sollte und nicht daheim – und als ich es tat, wirkte er ziemlich gelassen. Er hatte in den letzten Monaten so eine heitere Leichtigkeit entwickelt, die dem Gemüt eines kleinen Kindes glich. Vermutlich waren es Hirnmetastasen, die sein einst so kämpferisches Wesen so geduldig, gelassen und fröhlich gemacht hatten.
Ich kann es nicht mit Worten beschreiben, wie schwer mir der Gang ins Badezimmer fiel, um seine Toilettesachen zusammenzupacken. Ein letztes Mal. So oft hatte ich sie zusammengepackt, als wir auf Tour gingen, um in halb Europa Konzerte zu spielen. Ich wusste genau, welche Dinge aus dem Badezimmer er gerne mit sich hatte und welche ich nicht einzupacken brauchte. Doch diesmal war es anders. Mir war ganz bewusst, dass er sehr viele Dinge überhaupt nicht mehr brauchen wird. Wahrscheinlich wird er gar nichts mehr brauchen, dachte ich mir. Dennoch packte ich das hübsche gelbe Toilettetäschchen, das wir extra gekauft hatten, als sich seine Zeiten im Krankenhaus häuften, liebevoll zusammen und verstaute es in seiner Tasche.
Danach fuhren wir mit der Rettung ins Hospiz. Ich versuchte, ihn aufzuheitern und er spielte das Spiel mit. Er wusste, dass ich immer für ihn da sein würde und dass ich auf ihn aufpassen würde.
Er wurde auf sein Zimmer gebracht und Schwester A. blieb noch ein bisschen. Dann packte ich seine wenigen Sachen aus. Ich verbarg, wie sehr meine Nerven blank lagen. Ich ging hinaus, um mich mit einer Zigarette zu beruhigen und kam wieder. Später kam eine Freundin, die in der Nähe wohnte und mir versprochen hatte, da zu sein. Nach ein paar Untersuchungen, die ihm sichtlich unangenehm waren und gegen die er sich mit aller Gewalt wehrte, schlief er ein. Ich bekam ein Notbett gleich neben seinem aufgebaut und meine Freundin und ich holten Mona, unsere Hündin, und schmuggelten sie mithilfe einer Schwester in das Hospiz. Mona leckte nur kurz über die Hand meines Mannes und rollte sich dann auf meinem Notbett zusammen. Sie hatte sich bereits eine Woche davor von ihm verabschiedet. Sie roch, was ich auch roch – den Tod.
Der Tod ist kein fixer Zeitpunkt, auch wenn er im Totenschein so angegeben wird. Der Tod ist eine Lebensphase, die ein paar Tage bis sogar Wochen dauern kann. Bei meinem Mann war die erste Phase des Todes sehr offensichtlich gewesen. Die Verdauung hat ihren Dienst eingestellt, er hat feste Nahrung wieder erbrochen, was ihm ein bisschen peinlich war, und ich wusste, ich darf ihm jetzt zwar etwas zu Essen anbieten, aber während ich zuvor immer versucht hatte, ihn zum Essen zu ermuntern, erklärte ich ihm jetzt, dass er nicht essen müsse, wenn er nicht wolle. Es wäre einfach da, und er solle mir sagen, wenn er etwas wolle. Er lächelte mich gütig an und ich spürte ein tiefes Vertrauen zwischen uns. Vor allem in den letzten Monaten wurden wir ein eingespieltes Team und ich habe gelernt, seine Wünsche völlig zu respektieren, auch wenn sie mir manchmal absurd vorkamen, ich habe gelernt, mich wirklich in ihn einzufühlen, auch wenn es noch so schwierig war und ich habe dadurch eine so tiefe Liebe erfahren dürfen, wie ich sie niemals zuvor in meinem Leben kannte.
Im Zuge dieser ersten Todesphase hat nicht nur die Verdauung gestoppt. Es hat sich auch sein Körpergeruch minimal verändert. Es war nicht grauslich oder so. Überhaupt nicht. Sein Geruch war einfach ein kleines bisschen anders. Mona hat das sofort bemerkt. Sie hatte über Monate immer bei ihm auf der Couch übernachtet, da er keine Kraft mehr hatte, sich zum Schlafen ins Bett zu legen. Anfangs hatte ich ihm oft geholfen beim Aufstehen, Zähne putzen und ins Bett gehen, aber irgendwann wollte er nicht mehr und so versuchte ich, es ihm auf seiner heiß geliebten Couch so gemütlich zu machen, wie ich nur konnte. Mona war ihm nicht von der Seite gewichen in dieser Zeit, aber als sich der Geruch veränderte, schlief sie jeden Tag ein kleines Stückchen weiter weg von ihm. Diese Phase hatte zirka zehn Tage gedauert und zu unserer Überraschung stellten wir fest, dass es ihm tatsächlich noch einmal besser ging in dieser Zeit. Der Verdauungsvorgang hatte offensichtlich viel Kraft gekostet. Plötzlich zitterte seine Hand nicht mehr, wenn er den Becher hielt, um etwas zu trinken und er hatte sogar wieder ein bisschen Energie, um enge Freunde und seine Mutter ein letztes Mal für einen Abschiedsbesuch zu empfangen und er scherzte und alberte herum, so gut ihm das in seinem körperlichen Zustand halt möglich war.
Doch diese Phase war jetzt vorbei. Wir waren im Hospiz und er schlief friedlich neben mir. Mona, meine Freundin und ich wachten. Niemals hätte ich ein Auge zutun können. Gegen Früh fuhr ich mit meiner Freundin in ihre Wohnung und brachte auch Mona dorthin. Ich aß etwas und ging unter die Dusche, als mich ein unheimliches Gefühl einholte. Irgendetwas stimmte nicht. Ich zog mich sofort wieder an und fuhr zurück ins Hospiz. Mein Mann schlug wild um sich und fiel dabei fast aus dem Bett. Wie ich danach erfuhr, hatte er ein Beruhigungsmittel bekommen, das nicht auf seiner Medikamentenliste gestanden hatte und auf das er schon einmal zuvor paradox reagiert hatte. (Damit ist gemeint, dass man nicht ruhig wird von diesem Medikament, sondern genau das Gegenteil passiert – man wird völlig aufgebracht, nervös und panisch.)
Ich hielt meinen Mann fest, so gut ich konnte und schrie nach der Schwester. Ich hatte gesehen, dass auch das Shirt, das er anhatte, vorne aufgeschnitten war. Ich war selbst ein bisschen in Panik, aber dennoch ganz klar im Kopf. Rasch konnte ich klären, dass er das falsche Medikament bekommen hatte und um sich geschlagen hatte (im Versuch, ihm etwas Anderes anzuhängen, musste man das Shirt aufschneiden) und da die Schwester wusste, dass ich mich mit seinen Medikamente bestens auskannte, vertraute sie mir sofort und hängte das Mittel ab. Ich bat darum, dass er nur noch seine Schmerzmittel bekommen möge und sonst nichts und die Schwester richtete das sofort dem behandelnden Arzt aus, der zustimmte.
Man wünscht sich ja immer schöne letzte Worte von Sterbenden, aber vermutlich ist das etwas, das es nur in Hollywood-Filmen gibt. Seine letzten Worte an mich waren mitten in der Panikattacke, als ich ihn festhielt, damit er nicht aus dem Bett fällt. „Du stinkst!“ schrie er mich an und wehrte sich gegen mich. Ich nehme an, er erkannte mich nicht und da ich davor eine geraucht hatte, roch ich vermutlich auch nicht wirklich gut. Ich hielt ihn fest, bis er sich beruhigt hatte und hoffte, dass er noch einmal zu sich kommen würde. Dem war aber nicht so. Die Panikattacke hatte seine letzte Kraft geraubt. Er war völlig erschöpft und schlief. Es war irgendwann am Morgen und ich war inzwischen auch völlig fertig – ohne Schlaf, meine Nerven lagen blank und ich war kraftlos, nicht nur von der letzten Nacht, sondern von den Monaten Pflege und Arbeit, die ich hinter mir hatte. Ich legte mich auf mein Notbett und verharrte dort aus. Meine Freundin war bei mir und versuchte, mich aufzubauen und zu stärken. Ich ruhte mich ein bisschen aus.
Da war er also, der Tod, auf den ich mich schon so lange vorbereitet hatte, den ich nicht wahrhaben wollte und den ich immer wieder wegschob, auch wenn ich wusste, dass er unausweichlich kommen würde. Zweieinhalb Jahre war mein Mann krank gewesen, mit einer tödlichen Diagnose von Anfang an, die wie ein Damoklesschwert über uns hing. Dieser Tod war nicht sein erster Tod – wir sind bis dahin schon so viele Tode gestorben, von der Diagnose beginnend, erst der Verlust seiner Potenz und damit auch der Männlichkeit, dann der Abbau seines Körpers, der mehr und mehr sichtbar wurde, schließlich die Lähmungen der Beine, die es verhinderten, normal gehen zu können, dann der Verlust der Fähigkeit, selbst urinieren zu können bis hin zum Verlust eines Teils des Gedächtnisses und letztendlich die Endphase, in der der Körper aufhörte zu verdauen und er nichts mehr essen konnte. Es war nicht sein erster Tod, aber es sollte sein letzter sein.
Sein Tod schien irgendwie wie eine Befreiung zu sein von einem Körper, der einfach nicht mehr funktionieren und gesunden konnte. Er war eine Befreiung von unglaublichen Schmerzen, die oft auch mit stärksten Schmerzmitteln nicht gestillt werden konnten. Ich glaube nach wie vor, dass es für ihn ein Heimgehen war in eine andere Dimension, die keine Materie und damit auch keinen Körper mit all seinen Beschwerden braucht.
Ich war nicht alleine, als er in die Anderswelt entschwand, sondern behütet im Hospiz und umgeben von einer Freundin und einer sehr liebevollen Mitarbeiterin des mobilen Hospizes Caritas. Ich fühlte seine Anwesenheit noch Stunden nach seinem Tod. Ich erinnere mich genau, dass es das Schlimmste und gleichzeitig das größte Erlebnis meines Lebens war. Es heißt, die Hoffnung stirbt zuletzt und jetzt war sie endlich tot. Endlich! Ich schwebte auf den Gang hinaus und öffnete alle Fenster, auch die Fenster in seinem Zimmer. Ich hatte das Bedürfnis nach Luft – viel Luft.
Ich spürte in diesem Moment bzw. in den Wochen danach keine Traurigkeit. Alles war wie leer und ich empfand mich als ungeheuer leicht und frei. Im Nachhinein ist das für mich auch kein Wunder, denn nach Jahren von Vollzeitarbeit, Pflege und Aufopferung bis hin zum Nervenzusammenbruch, in denen mein eigenes Leben und meine eigenen Bedürfnisse verschwunden waren, war es für mich selbst wie eine Art Wiedergeburt. Meine Energiereserven waren aufgebraucht und meine Batterien leer und plötzlich hatte mich das Leben wieder an die Stromzufuhr angehängt.